6 Gespräche, die die Elektronikbranche 2025 geprägt haben
Im Laufe des Jahres 2025 führte Evertiq eine Reihe von Gesprächen mit Branchenführern und Analysten, die ein präzises Bild davon zeichneten, wie sich der Elektronikmarkt weiterentwickelt. Die globalen Lieferketten sind in eine neue Phase eingetreten – geprägt durch künstliche Intelligenz, Reshoring-Strategien, Fachkräftemangel, nationale Sicherheitsanforderungen, Nachhaltigkeitsziele und eine strukturelle Neuinterpretation des Halbleiterzyklus.
Diese redaktionelle Auswahl fasst jene Gespräche zusammen, die im Jahr 2025 die klarsten Einblicke in die strukturelle Entwicklung der Elektronikindustrie boten. Es handelt sich nicht um eine vollständige Übersicht aller Interviews, sondern um eine Perspektive auf die wichtigsten industriellen Verschiebungen des Jahres.
2025 war weder eine Fortsetzung der pandemiebedingten Angstkäufe noch eine einfache Marktbereinigung nach Überbeständen. Stattdessen zeigte das Jahr eine komplexe Industrielandschaft, in der neue technologische Modelle, geopolitische Rahmenbedingungen und industrielle Strategien zunehmend entscheidend werden. Die Gespräche boten einige der aufschlussreichsten Betrachtungsfenster in diesen Wandel.
Eine fragile Transformation in Lieferkette und Distribution
Ein umfassender Marktüberblick kam von DigiKey-CEO Dave Doherty. Er beschrieb eine Industrie, die nicht mehr von kurzfristigen Schocks bestimmt wird, sondern von struktureller Neuordnung. KI verändert Entwicklungs- und Fertigungsprozesse, Reshoring ist nicht länger theoretisch, sondern ein fester Bestandteil industrieller Planung geworden, und Lieferstabilität bildet die Grundlage strategischer Entscheidungen. Für OEMs und Distributoren ist Resilienz inzwischen Teil der kritischen Infrastruktur. Der globale Markt wirkt zwar stabiler, aber nicht, weil Nachfragezyklen wieder homogen verlaufen. Vielmehr haben Unternehmen gelernt, Volatilität, Fragmentierung und Regionalisierung als dauerhaften Rahmen zu managen.
Halbleiter und der gebrochene Zyklus
Einen besonders präzisen analytischen Impuls lieferte Claus Aasholm, Gründer von Semiconductor Business Intelligence, während der Evertiq Expo Malmö. Der historische Vierjahreszyklus der Halbleiterindustrie, lange als nahezu natürliches Gesetz betrachtet, scheint seine Gültigkeit verloren zu haben. Der Markt entwickelt sich nicht mehr synchron, sondern verteilt sich auf voneinander unabhängige Segmente, in denen Profitabilität und Nachfrage selektiv wachsen. Reife Fertigungsnodes, Automotive-Halbleiter, Hochleistungsspeicher und verteidigungsrelevante Anwendungen folgen nicht denselben Mustern wie Unterhaltungselektronik oder PCs. Die Konsequenz ist klar: Prognosen müssen neu gedacht werden. Unternehmen können nicht mehr davon ausgehen, dass ein einzelner Zyklus die gesamte Branche steuert. Planung wird granularer und Profitpools verschieben sich.
Industrielle Umsetzung und Skalierung
Eine operative Fertigungsperspektive lieferte Otto Pukk, CEO von Incap, während der Evertiq Expo in Krakau. Die Elektronikfertigung wächst weiter – mit neuer Kapazität, langfristigen Programmen und regional optimierten Produktionsmodellen. Die zentrale Botschaft: Elektronik bleibt ein struktureller Wachstumsmarkt mit langfristiger Nachfrage, doch Skalierung erfordert industrielle Disziplin, Kapitalzugang und Talententwicklung. EMS-Unternehmen übernehmen zunehmend strategische Aufgaben – von Lifecycle-Management bis zu flexibler Skalierung kritischer Produktionsumgebungen.
Vertikale Fertigung in Europa
Ein zentrales industrielles Signal kam von TLT Manufacturing, besprochen in einem exklusiven Gespräch mit Vytautas Ilgūnas, Chief Commercial Officer von TLT PCB. Das Unternehmen hat in Vilnius eine Erweiterung von rund 320 Millionen Euro eingeleitet, darunter vier neue Werke und einen vollständig vertikal integrierten Produktionspark. Anstatt kritische Schritte auszulagern, entwickelt TLT ein vollständiges Fertigungsökosystem in Europa – von Komponentenbearbeitung über subsystemare Integration bis zur Endmontage – alles innerhalb einer kontrollierten industriellen Umgebung.
Die strategische Botschaft ist eindeutig: Reshoring wird nicht mehr schrittweise, sondern strukturell. Vertikale Integration erhöht Wettbewerbsfähigkeit, reduziert Lieferkettenrisiken, beschleunigt Industrialisierung und schafft eine belastbare Basis für europäische OEMs. Ilgūnas fasst es zusammen: „Wir bauen nicht nur Fabriken – wir schaffen europäische Stärke für die Zukunft.“ Fertigungskapazität wird damit zu einem langfristigen strategischen Vermögenswert, nicht zu einer kurzfristigen Reaktion auf Marktvolatilität.
Defence-getriebene industrielle Expansion
Eine ergänzende operative Perspektive bot Gocar Electronic, vertreten durch Expansion Director Juan Docio Gomez. Das Unternehmen betrachtet Mitteleuropa als stabilen und attraktiven Standort für zusätzliche Kapazitäten in Halbleitern und Komponenten. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die spanische Verteidigungsindustrie ihre Ambitionen deutlich erhöht und in Beschaffung und Technologieentwicklung zunehmend auf komplexe Elektronik setzt. Verteidigung ist in Spanien kein Randbereich mehr, sondern ein wachsendes industrielles Segment, das Qualifikationen, Lieferketten, Fertigungstiefe und langfristige Planung beeinflusst.
Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft
Zum Abschluss des Jahres beleuchtete ein Gespräch mit Peter Kolbe, Co-CEO von MPM Environment Intelligence GmbH, die strategische Bedeutung der Kreislaufwirtschaft. Produktionsabfälle in PCB- und EMS-Fertigung enthalten wertvolle Materialien, deren ökologischer und wirtschaftlicher Wert häufig unterschätzt wird. Industrielles Recycling kann – wenn konsequent umgesetzt – ökologische Belastungen reduzieren, Ressourcen zurückgewinnen und den Druck auf die Rohstoffbeschaffung verringern. Angesichts der europäischen Abhängigkeit von importierten Materialien und der wachsenden Sensibilität für kritische Rohstoffe gewinnt materielle Kreislaufführung in der Elektronik enorme Bedeutung.
Zentrale Erkenntnisse
Diese sechs Gespräche vermitteln ein präzises Bild der Elektronikindustrie im Jahr 2025. KI ist nicht länger Trendthema, sondern Organisationsprinzip für Engineering, Planung und Lieferketten. Reshoring ist kein politisches Schlagwort, sondern ein strategischer Hebel, der Nähe, Sicherheit und Risikotoleranz abbildet. Die Halbleiterindustrie befindet sich in einer strukturellen Neuordnung, in der einheitliche Zyklen fragmentierten Profitpools und differenzierter Nachfrage gewichen sind. Die Fertigung in Europa wächst weiter, insbesondere mit Blick auf Elektronik und Verteidigung. Distribution und Produktion entwickeln sich neu, indem Resilienz, Kultur und Partnerschaften als operative Werte verankert werden. Nachhaltigkeit ist nicht mehr optional: Kreislaufwirtschaft, Recycling und Materialrückgewinnung werden zu zentralen Faktoren der Ressourcensicherheit.
Was 2025 auszeichnet, ist nicht ein einzelner technologischer Wandel, sondern das Zusammenspiel industrieller Kräfte: KI, Beschaffung, Regionalisierung, Verteidigung, Fertigungsdisziplin, Halbleiterstrategie und Kreislaufwirtschaft. Die von Evertiq geführten Gespräche zeigen, dass die Elektronikindustrie sich nicht nur an äußere Schocks anpasst, sondern sich von innen heraus neu organisiert – mit Strukturen, Partnerschaften und Fähigkeiten, die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz über Jahre hinweg bestimmen werden.


