Eine hausgemachte Krise: Der europäische EMS-Markt ist 2024 um 14% geschrumpft
An der Evertiq Expo in Berlin standen ein weiteres Mal Marktanalyst Dieter Weiss (in4ma) und Christoph Solka (IPC, heute Global Electronics Association) auf der Bühne – nicht um über Versprechen und Wachstum zu reden, sondern über Zerfall. Mit Daten von über 400 Unternehmen und bissigen Kommentaren beschreiben die beiden das ihrer Meinung nach schlimmste Jahr für die europäische EMS-Industrie seit zwei Jahrzehnten – und eine Krise, welche die Branche voll und ganz selbst verursacht hat.
“Nennt es nicht eine Verlangsamung der Weltwirtschaft”, warten Weiss das Publikum. “Das ist Bullshit.”
Es wurde still im Raum.
Die europäische EMS-Branche ist im Jahr 2024 um 14% geschrumpft. Deutschland verzeichnete einen noch stärkeren Rückgang von 17.8%, während 28 EMS-Unternehmen komplett schlossen. Und dennoch, trotz dieses Rückgangs, ist die Beschäftigung im Sektor lediglich um 2% zurückgegangen. Das Ergebnis? Eine heftige Abnahme in Sachen Produktivität – minus 12.2% über ganz Europa und minus 16.8% in Deutschland.
Der Grund für diese Entwicklung? Panik-Bestellungen, angetrieben durch Fehlinformationen während der “Chipkrise”, erklärt Weiss – ein Phänomen, das er mit der Toilettenpapier-Panik 2020 verglich, als er vergangenes Jahr an seiner Keynote in Gothenburg sprach.
“Sprecht nicht über eine globale Verlangsamung der Branche. Es gab keine globale Verlangsamung der Branche. Unsere Probleme in der Elektronikbranche sind hausgemacht”, sagte Weiss.
Lagerbestände, die in der Vergangenheit bei etwa 15% des jährlichen Umsatzes lagen, schossen hoch auf 30% oder mehr. Die Industrie hat Produkte hergestellt für eine Nachfrage, die nie existierte – und die OEM-Regale sind immer noch voll, fügte Christoph Solka hinzu.
Ein schrumpfender Kuchen – und wer ihn isst
in4ma schätzt, dass in Europa 2’400 EMS-Unternehmen zuhause sind. Aber nur 136 von ihnen – jene mit jährlichen Umsätzen von über 50 Millionen Euro – machen jetzt 81% des gesamten Markts aus. Die anderen etwa 1’800 Firmen teilen sich die übrigen 19%.
Währenddessen kommt Osteuropa – mit weniger Unternehmen – mit seinen Umsätzen beinahe an Westeuropa heran, dank der Präsenz von Giganten wie Flex, Jabil, Plexus und Foxconn. Die Unterschiede bei den Arbeitskosten entscheiden weiterhin, wo große Investitionen in EMS landen.
Sektoren-Breakdown und Ausblick
Die Automobil- und Industriesektoren wurden am härtesten getroffen, mit abnehmenden Bestellungen und starkem Preisdruck. Luft- und Raumfahrt- und Verteidigungselektronik stachen heraus mit einem Wachstum von 29% – allerdings macht dieses Segment immer noch lediglich 3.7% von Deutschlands EMS-Output aus. In anderen Ländern, wie etwa Frankreich, Italien, Großbritannien und Teilen von Skandinavien, hat die Verteidigung einen bedeutend höheren Anteil inne. In den Bereichen Unterhaltungselektronik und Landwirtschaft waren kleine Gewinne zu verzeichnen.
Mit Blick in die Zukunft wies Christoph Solka auf neue Daten der Component Distributors Association hin. Nach mehreren Quartalen mit rückläufigen Umsätzen und Auftragseingängen begann das Verhältnis von Auftragseingänge und Umsätze Anfang 2025 wieder zu steigen. Als das erste Quartal da war, hatten Auftragseingänge und Umsätze endlich begonnen, sich auszugleichen – ein potenzielles Zeichen für Erholung.
Die Prognose? Ein Anstieg von 3.1% der EMS-Umsätze in Europa dieses Jahr, wobei erwartet wird, dass Osteuropa um 3.6% wächst und Westeuropa um 2.7%. Deutschland wird derweil laut Erwartungen das Schlusslicht sein, mit einem Wachstum von nur 1.6%.
Aber trotz des vorsichtigen Optimismus schleichen sich alte Ängste ein.
“Was im Moment passiert”, sagte Weiss, “ist, dass es da diesen Typen namens Donald Trump gibt, der ständig Tarife einführt… Am Montag sind die Tarife hoch, am Dienstag sind sie tief, und am Mittwoch wieder hoch.”
Das Ergebnis: US-Firmen horten Komponenten in der Hoffnung, den Tarifen zuvorzukommen. Lieferzeiten in Europa ziehen sich in die Länge – nicht dramatisch, aber genug, um Sorge zu erregen. Und Weiss sieht bereits die ersten Anzeichen von Panik.
“Ich muss euch warnen: geht nicht davon aus, dass das die nächste Chipkrise ist und fangt wieder an zu horden”, sagte er. “Wenn wir uns alle vernünftig verhalten, werden wir kein Problem haben.”
Aber wenn wir uns von Angst leiten lassen – erneut – werden wir unseren Fehler wiederholen.
Ein Ruf nach Souveränität – und Dringlichkeit
Gegen Ende verschärfte sich der Ton noch mehr. Weiss argumentierte, dass Europa Gesetze erlassen müsse für die heimische Produktion systemkritischer Elektronik – vor allem von Leiterplatten für Verteidigung und Luft- und Raumfahrt. Er warnte vor den nationalen Sicherheitsrisiken, welche die Abhängigkeit von der Produktion in China mit sich bringt.
Er beschrieb Szenarien, in denen mehrschichtige Schaltkreise manipuliert werden können, sodass sie unter bestimmten Funksignalen versagen – zum Beispiel indem eine Leiterbahn erhitzt wird, die in den inneren Schichten eingebettet ist, bis sie wie eine Sicherung durchbrennt.
Trotz wiederholter Warnungen an Brüssel habe sich wenig geändert, merkte er an.
“Wir sind so dumm, dass wir denken, Weltwirtschaft bedeute, dort zu kaufen, wo es am günstigsten ist. China tut das nicht. Die USA tun das auch nicht. Russland tut das ganz sicher nicht.”
Mareike Haass (in4ma) und Christoph Solka werden an der Evertiq Expo Gothenburg wieder da sein, um ihre Erkenntnisse zu teilen und Teilnehmenden die neuesten Updates zur derzeitigen Marktlandschaft zu bieten sowie Ansichten dazu, was vor uns liegt. Der Event findet am 4. September 2025 statt.